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Kerstin Kersandt:  Lehrerhandreichung zum Thema "Zwangsarbeiterinnen im Raum Mainz-Wiesbaden in der Zeit des Zweiten Weltkrieges"

Thematischer Überblick [Fortsetzung]

Zu den besonderen Demütigungen und Risiken, denen die ausländischen Arbeiterinnen als Frauen darüber hinaus ausgeliefert waren, gehörte die permanente Bedrohung durch sexuelle Übergriffe. Vergewaltigungen stellten hier sicherlich nur die Spitze des Eisbergs dar, unziemliche Berührungen, Blicke oder Worte konnten gleichfalls zutiefst verletzende Erlebnisse für die weiblichen Arbeitskräfte darstellen (M 23).

Ihre rechtlose Stellung machte gerade "Ostarbeiterinnen" und Polinnen zu prädestinierten Objekten für Zudringlichkeiten und Anzüglichkeiten seitens einheimischer Männer. Häufig waren es Personen mit Aufsichtsfunktionen, wie Vorgesetzte, Lagerleiter oder Wachpersonal, die ihre übergeordnete Stellung und die damit verbundene Machtposition ausnutzten, um sich die jungen slawischen Mädchen durch Drohungen, Druck, blanke Gewalt oder Gefälligkeiten in Form von Geschenken und Privilegien gefügig zu machen (M 9). Bei M.A.N. in Gustavsburg wurden "Ostarbeiterinnen", die sich gegen den intimen Verkehr sträubten, offenbar fürchterlich geschlagen und für mehrere Tage bei Wasser und Brot in einen Bunker ohne Tageslicht gesperrt [14]. Sexuelle Nachstellungen mussten die Frauen wohl keineswegs nur von Deutschen befürchten, sondern ebenso von den eigenen Landsleuten oder anderen ausländi-schen Arbeitern.

In vielen Lagern blühte daneben die illegale Prostitution, bei der sich die Grenzen zwischen Zwang und Freiwilligkeit sicherlich verwischten. Auf der einen Seite organisierten Zuhälter, die gegebenenfalls auf geeignete Druckmittel zurückgreifen konnten, den Kontakt mit den Freiern und machten dabei selbst ein einträgliches Geschäft. Auf der anderen Seite ließen sich die auf zusätzliche Versorgungsquellen besonders angewiesenen "Ostarbeiterinnen" mit privi-legierten Männern unterschiedlicher Nationalität ein, um sich auf diese Weise Lebensmittel, bessere Arbeitsplätze oder andere Vergünstigungen zu erkaufen (M 24, M 25).
"Vor Maschinen stelle ich keine deutschen Frauen, dafür sind die Russinen [!] gerade gut genug." [15] - Diese großspurige Äußerung Sauckels aus dem Jahre 1943 entsprach zwar keineswegs der betrieblichen Realität, verdeutlicht aber einmal mehr die grundsätzliche, rassistische Leitlinie des nationalsozialistischen Zwangsarbeitssystems. Natürlich waren auch einheimische Arbeitnehmerinnen nicht zu knapp in die wenig attraktive, industrielle Fertigung eingebunden. Derartige die Würde des Menschen angreifende Diskriminierungen, wie sie die weiblichen Arbeitskräfte aus Osteuropa aufgrund ihrer Herkunft zu erleiden hatten, blieben ihnen jedoch erspart; im Gegenteil, ihre Position wurde gegenüber den Sowjetbürgerinnen in der Theorie und so weit wie möglich ebenfalls in der Realität des Arbeitsalltags herausgehoben. Die sowjetischen Frauen sollten idealerweise diejenigen Tätigkeiten verrichten, die man ihren deutschen Kolleginnen nicht zumuten wollte (M 14, M 15).

Immer wieder hoben Parteifunktionäre und Verwaltungsbeamte auf die extreme Belastbarkeit und vermeintlich so stabile psychische und physische Konstitution der "Ostarbeiterinnen" ab (M 12, M 13). In diesem Zusammenhang wurde auch häufig die angebliche Andersartigkeit der "Russinnen" gegenüber der deutschen weiblichen Bevölkerung herausgestrichen. In der Regel legitimierte diese propagierte biologische Ungleichheit die nach rassischen Gesichtspunkten ausgerichtete hierarchische Organisation des Arbeitseinsatzes und damit die Besser-stellung und Schonung deutscher Frauen. Bei der Chemiefabrik Kalle & Co und bei den Glyco-Metallwerken in Wiesbaden erledigten größtenteils die "Ostarbeiterinnen" die anfallenden Tag-Nacht-Schicht-Arbeiten, die so den deutschen Frauen erspart blieben (M 16).
Wie ihre männlichen Kollegen sollten die "Russenweiber" ihren erzwungenen Beitrag für die deutschen Siegesanstrengungen leisten: in großen Fabrikhallen, in der Landwirtschaft, in Kleinbetrieben, Kommunen oder bei Privathaushalten. Angesichts der kriegswirtschaftlichen Erfordernisse lag das Hauptinteresse dabei auf der Erhöhung der Rüstungsproduktion. Hier hatten die sowjetischen Arbeiterinnen oft bei schweren, auszehrenden Tätigkeiten ihren "Mann" zu stehen.

[14] Dies will ein Zeitzeuge, der damals noch ein Junge war, von seiner Mutter erfahren haben. Siehe Christine Hartwig-Thürmer und Bernhard Riedt S. 109.
[15] Aktenvermerk des Beauftragten des Chef OKW beim GBA vom 9.1.1943 über die Tagung des GBA in Weimar am 6. und 7.1.1943, zitiert nach Bajohr S. 254.

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