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Kerstin Kersandt:  Lehrerhandreichung zum Thema "Zwangsarbeiterinnen im Raum Mainz-Wiesbaden in der Zeit des Zweiten Weltkrieges"

Thematischer Überblick [Fortsetzung]

Auch im Raum Mainz-Wiesbaden verteilten die Arbeitseinsatzbehörden die Frauen aus den eroberten Ostgebieten überwiegend auf die als kriegswichtig eingestuften Rüstungsbetriebe (M 2, M 26). Massiert schleusten die zuständigen Stellen die Ausländerinnen vor allem in die vor Ort konzentrierten Großunternehmen der chemischen Industrie und in den Metallsektor. Bei weitem der größte Arbeitgeber für die Sowjetbürgerinnen war dementsprechend die Fir-ma Kalle & Co. in Wiesbaden-Biebrich, gefolgt von dem Werk der M.A.N. in Mainz-Gustavsburg. Im April 1943 lebten allein in dem von Kalle & Co. unterhaltenen "Landgrabenlager" 291 und in dem Lager der M.A.N. 177 "Ostarbeiterinnen".
Keineswegs allein die Privatwirtschaft jedoch spannte die "Ostarbeiterinnen" für ihre Zwecke ein; auch staatlich Unternehmen standen hier nicht zurück. So zogen beispielsweise die Deut-sche Reichsbahn in Mainz oder das Staatsweingut Nierstein Vorteile aus dem profitablen Einsatz weiblicher sowjetischer Arbeitskräfte.

Im Allgemeinen gestaltete sich für die in der Landwirtschaft eingesetzten weiblichen sowie männlichen "Ostarbeiter" im Vergleich zur Industrie der Alltag erträglicher. Die Fremdarbei-ter waren bei den Bauern meist privat untergebracht, das heißt sie entgingen somit der strengen Kasernierung in den Lagern der Firmen. Insgesamt genossen sie auf dem Land eine größere Bewegungsfreiheit und unterlagen weniger der permanenten Observation durch den nationalsozialistischen Überwachungsapparat. Vor allem jedoch gewährleistete ein Arbeitsverhältnis in einem landwirtschaftlichen Betrieb zumeist eine ausreichende Ernährung.

Das konkrete Schicksal einer auf einem Hof beschäftigten "Ostarbeiterin" lag aber zu großen Teilen in den Händen des jeweiligen Landwirts bzw. der jeweiligen Bäuerin. Die Realität auf dem Lande gestaltete sich daher für die Betroffenen im einzelnen sehr unterschiedlich: Eine freundliche Aufnahme in die Familie gehörte ebenso in den Bereich des Möglichen wie die Behandlung als Quasi-Gefangene. Selbst die einzelnen Hofeigentümer verfolgten beim Umgang mit den Landarbeiterinnen nicht immer eine konsequente Linie, sie legten teilweise ambivalente, ja widersprüchliche Verhaltensweisen an den Tag. Im Extremfall schreckten auch die Bauern nicht vor einer bedenkenlosen Ausbeutung der ausländischen Arbeiter zurück, selbst körperliche Misshandlungen waren keine Seltenheit (M 27-M 29).

Nachgewiesenermaßen beschäftigte auch die Stadtverwaltung in Wiesbaden für kürzere oder längere Zeit weibliche Arbeitskräfte aus der Sowjetunion. Diese wurden allesamt im Frauentrakt der großen städtischen Sammelunterkunft an der Welfenstraße, Ecke Mainzer Straße (Deckname: Lager "Willi") (M 30-M 36), einquartiert und bei unterschiedlichen Dienststellen der Stadt beschäftigt Die Ausländerinnen machten sich oft als Küchenmädchen und Reinema-chefrauen nützlich oder übernahmen verschiedene in den städtischen Lagern anfallende Auf-gaben. Beim Städtischen Tiefbauamt waren sowjetische Frauen auch für die Müllsortierung zuständig (M 37-M 47). Die Verantwortlichen bemühten sich hier offenbar, ihre "Russinnen" wenigstens einigermaßen zu versorgen. Um jeden Morgen vom Gemeinschaftslager zu ihrer Arbeitsstätte, dem Müllplatz an der Saarstraße zu gelangen, erhielten die Mädchen eine Ausnahmegenehmigung für die Benutzung von Straßenbahn und Bus - ein Privileg, das "Ostarbeitern" nicht immer ohne weiteres zuteil wurde. Dass die Fremdarbeiterinnen diese öffentlichen Verkehrsmittel in Anspruch nahmen - und mit ihrer zerlumpten Erscheinung womöglich deutsche Fahrgäste stören könnten, so die nicht direkt formulierte Konsequenz - diente dem Tiefbauamt als Argument bei seinen Bemühungen, neue Kleidung für die "Ostarbeiterinnen" zu erstehen.

Selbst Privathaushalte in Mainz und Wiesbaden sowie zahlreiche Hotels und Restaurants der Kurstadt kamen in den Genuss einer günstigen weiblichen Arbeitskraft aus der UdSSR. Diese Zuteilung "russischer" Domestiken an deutsche Familien passt allerdings auf den ersten Blick kaum in das beim "Ostarbeitereinsatz" verfolgte rassistische Konzept; galt doch hier als ein wichtiges Gebot: "Die Ostarbeiter und Arbeiterinnen gehören nicht in die deutsche Haus- und Hofgemeinschaft" [16] . Anders als bei der Ausnutzung sowjetischer Arbeitskräfte in Industrie und Landwirtschaft ließ sich der Dienstmädcheneinsatz noch nicht einmal mit kriegswichti-gen Sachzwängen rechtfertigen; im Gegenteil: aus realökonomischer Perspektive musste die-ses Unternehmen eine Fehllenkung wertvoller Ressourcen bedeuten.

[16] Rundschreiben des Gauleiters der NSDAP im Gau Hessen-Nassau an die Kreisleiter und Gauredner vom 7.5.1942, HHStA 483/10643, Bl. 141612.

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