Kerstin Kersandt:
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EinleitungDie heftige Debatte um Entschädigungszahlungen an die noch lebenden
Betroffenen des NS-Zwangsarbeitssystems verlieh dem historischen Komplex
des von den Potentaten des "Dritten Reiches" eingefädelten
Ausländereinsatzes eine brennende Aktualität. Hier liegen
für einen lebendigen Geschichtsunterricht besondere Chancen. In
der Regel empfinden die Lernenden die Beschäftigung mit der Vergangenheit,
von der sie sich zumeist meilenweit entfernt fühlen, als wenig
bereichernd für die Bewältigung heutiger Lebensanforderungen
sowie für ihre persönliche Entwicklung. Der bei der Auseinandersetzung
mit dem Thema der Fremd- und Zwangsarbeit in Deutschland während
des zweiten Weltkrieges offensichtlich hervortretende unmittelbare Gegenwartsbezug
verdeutlicht dagegen konkret, inwieweit Geschichte in den eigenen Erfahrungshorizont
hineinreicht und weckt somit im Idealfall ein natürliches Schülerinteresse.
Die enorme Popularität des Gegenstandes in der breiten Öffentlichkeit
und die Präsenz in Zeitungsartikeln, Nachrichtenmeldungen sowie
im Internet erhöhen vermutlich die Bereitschaft der Jugendlichen,
sich mit dem Unterrichtsstoff auseinander zu setzen, zumal es ihnen
dadurch möglich wird, an einer allgemeinen Diskussion der "Erwachsenenwelt"
teilzuhaben, "mitzureden". Daneben nimmt das Thema der Ausländerbeschäftigung von 1939
bis 1945 einen berechtig-ten Platz im Geschichtsunterricht ein, weil
anhand dessen Einblicke in sozial- und wirt-schaftsgeschichtliche Aspekte
gewährt sowie wichtige Elemente des Herrschaftssystems im Dritten
Reich aufgezeigt werden können. Die rassistische Ausrichtung des
Fremdarbeitereinsatzes lässt in besonderem Maße Rückschlüsse
zu auf die NS-Ideologie und ihre Konsequenzen für die Realität.
Gerade anhand der Arbeits- und Lebensbedingungen der nach Deutsch-land
zwangsverpflichteten Bewohner Osteuropas, die gemäß den weltanschaulichen
Prämis-sen des Hitlerregimes als Inbegriff des Untermenschen galten,
treten den Schülern die verheerenden Auswirkungen der menschenverachtenden,
diskriminierenden Thesen der nationalsozialistischen Rassendoktrin vor
Augen. Zu großen Teilen hing das konkrete Schicksal der Fremden im Reich
auch davon ab, wie die einheimische Bevölkerung den Ausländern
entgegentrat. Die Masse der Deutschen legte ge-genüber dem Los
der fremdländischen Mitmenschen Gleichgültigkeit und Ignoranz
an den Tag. Die Verhaltensmuster reichten aber prinzipiell von einer
die offiziellen Bestimmungen noch übertreffenden Inhumanität
über die Akzeptanz der fremdenfeindlichen Parolen der Machthaber
bis hin zu einzelnen Gesten der Anteilnahme. Selbst für tatkräftige
Hilfe, die im Bewusstsein der Gefährdung der eigenen Sicherheit
geleistet wurde, lassen sich in den Quel-len entsprechende Belege finden.
Trotz aller staatlichen Anweisungen also gab es Möglichkeiten zur
Eigeninitiative im positiven wie im negativen Sinn; das individuelle
Verhalten jedes einzelnen Deutschen wirkte sich auf die reale Situation
der Fremden aus. Durch diese fachbezogene Erkenntnis wird für die
Schüler darüber hinaus die allgemeine Bedeutung von Zivilcourage
und eines eigenständigen, verantwortungsbewussten Handelns sichtbar.
Dies entspricht einem generellen Anliegen des historisch politischen
Unterrichts. In den Medien und den Lehrbüchern, ja selbst in der Forschungsliteratur
zum Thema erfährt man über den Einsatz von Zwangsarbeiterinnen
allerdings meistens nur wenig [1]. Die Tatsache, dass
es sich bei einem Drittel aller Fremdarbeiter um Frauen handelte, wird
in der Regel kaum registriert, obwohl Ulrich Herbert, ein exzellenter
Kenner der Materie, konstatiert: "Der durchschnittliche Zwangsarbeiter
in Deutschland 1943 war eine 18jährige Schülerin aus Kiew"
[2]. Die vorliegende Lehrerhandreichung rückt
daher ganz bewusst die Situation der ausländischen, vor allem der
osteuropäischen, weiblichen Arbeitskräfte in den Vordergrund
und versucht auch spezielle Aspekte weiblicher Zwangsarbeit, wie etwa
die Möglichkeit einer Schwangerschaft, näher zu beleuchten. Zusätzlich konzentriert sich das erarbeitete Manuskript auf einen
regionalen Bezugspunkt, nämlich den Raum Mainz-Wiesbaden. Natürlich
eignet sich der hier zusammengestellte Un-terrichtsentwurf somit besonders
für eine Verwendung an Schulen dieser Gegend. Denn die Gelegenheit,
im Unterricht etwas über die Geschehnisse in der eigenen Heimat
während der Zeit des Nationalsozialismus zu erfahren, dürfte
die Lernmotivation der Schüler erheblich fördern. Viele aus
der Klasse wissen wahrscheinlich, dass während des Zweiten Weltkrieges
bei fast allen großen Firmen, wie VW, Mercedes-Benz oder Siemens,
Fremdarbeiter beschäftigt waren. Dass aber auch in Wiesbaden und
Mainz mehrere tausend Ausländer und Ausländerinnen in Lagern
lebten und für die örtliche Wirtschaft Dienst taten, dürfte
die Lernenden überraschen und demzufolge auch ihre Neugierde wecken.
Neben dem Einblick in die regionalen Bedingungen beim Einsatz polnischer
und sowjetischer Frauen geben die aus den Beständen des Hessischen
Hauptstaatsarchivs Wiesbaden (HHStA) und des Stadtarchivs Wiesbaden
(StadtA Wi) stammenden Materialien aber gleichfalls Aufschluss über
allgemeine Phänomene der zwangsweisen Beschäftigung von Ausländerinnen.
Da ferner zugleich Dokumente aus der Literatur und publizierten Quellensammlungen,
die sich vornehmlich auf die Reichsebene beziehen, hier Verwendung fanden,
kann dieser exemplarische Unterrichtsentwurf durchaus auch überregional
benutzt werden. Die vorliegende Lehrerhandreichung ist konzipiert für die gymnasiale
Oberstufe (Sekundar-stufe II). Sie soll dem Lehrpersonal eine thematische
Einführung bieten und ihm entsprechende Materialien, Vorschläge
für Arbeitsaufträge sowie Anregungen für den Unterrichtsablauf
liefern. Je nach Bedarf und zur Verfügung stehender Zeit können
mit Hilfe dieses Manuskripts eine oder mehrere Schulstunden bestritten
werden; selbst die Möglichkeit zur Durchführung einer Projektwoche
besteht. Prinzipiell soll dem Lehrer eine flexible Unterrichtsgestaltung
vorbehalten bleiben, hier bietet sich auch der Rückgriff auf einzelne
ausgewählte Quellen aus dem Dokumentenanhang an. [1] Die Medien bedienen sich vor allem des Ausdrucks
Zwangsarbeiter, also einer maskulinen Form, die aller-dings wohl oft
den Frauenanteil unter den aus den besetzten Gebieten gegen ihren Willen
Deportierten still-schweigend mit einbeziehen soll. Dieser gängige
Sprachgebrauch verleitet jedoch dazu, dass das spezifische Los der zahlreichen
weiblichen Arbeitskräfte aus dem Gesichtsfeld gerät. [Thematischer Überblick] [Literaturverzeichnis] [Arbeitsvorschläge] |