zurück zur Startseite
 

Kerstin Kersandt:
Lehrerhandreichung zum Thema "Zwangsarbeiterinnen im Raum Mainz-Wiesbaden in der Zeit des Zweiten Weltkrieges"

Vorschläge für Arbeitsaufträge [Fortsetzung]

M 9, M 23-M 25:. Kennzeichnen Sie die spezielle Notlage ausländischer Fremdarbeiterinnen. Welche unterschiedlichen Erscheinungsformen sexueller Begegnungen ausländischer Frauen mit Männern lassen sich aus den Quellen herauslesen?
In diesem Zusammenhang sollte auch thematisiert werden, warum es schwierig ist, direkte Hinweise auf Vergewaltigungen von Fremdarbeiterinnen aufzuspüren. In vielen Fällen wer-den die betroffenen Frauen bei einer Vergewaltigung aus Scham oder Angst keine Anzeige erstattet haben, weshalb solche Gewaltverbrechen in zeitgenössische Akten nicht unbedingt Eingang fanden. Die Selbstzeugnisse ehemaliger Zwangsarbeiter und -arbeiterinnen, aber auch die Aussagen deutscher Zeitgenossen und Zeitgenossinnen, enthalten zu diesem heiklen Themenkomplex - wenn überhaupt - nur spärliche Fingerzeige und Andeutungen; meist bleibt dieser Bereich in den Erinnerungen völlig tabuisiert.

M 26: Schildere die Situation der sowjetischen Mädchen bei der Firma EFEN. Wie reagierte Rudi Leitem? Was zeichnet sein Handeln aus? Wie verhielten sich die anderen in dem Bericht vorkommenden Personen gegenüber den Ausländerinnen?

M 27-M 29: Entwerfen Sie ein Bild von der Situation polnischer Landarbeiterinnen. Von welchen Faktoren hing es ab, wie es Frauen an ihrer Arbeitsstelle erging?

M 29: Wie reagierten die Behörden darauf, dass Karolina C. von Ortsbauernführer Th. misshandelt worden war?

M 30-M36: Beschreiben Sie die Verhältnisse im Lager "Willi" an der Welfenstraße. (Oder: Verfassen Sie aus der Perspektive eines DAF-Funktionärs einen Inspektionsbericht über das Lager "Willi"). Wie gestalteten sich die Lebensumstände für die dort untergebrachten "Ostar-beiterinnen"?

M 37-M47: Versetzten Sie sich in die Lage eines der drei auf dem Müllplatz arbeitenden und im Lager Willi untergebrachten Mädchen. Beachten Sie das Alter der "Ostarbeiterinnen", und verfassen Sie einen Brief, der von einem der Mädchen an Verwandte oder Freunde in der Heimat hätte geschrieben werden können.

Zur Erledigung dieser Aufgabe nehmen die Schüler und Schülerinnen die Perspektive der be-troffenen Zwangsarbeiterinnen ein. Es wird ihnen möglich, sich mit diesen zu identifizieren. Die Bereitschaft und Fähigkeit, sich in das Empfinden und die Erfahrung anderer Menschen einzufühlen (Empathie), soll gefördert werden. Hierin liegt eine entscheidende Voraussetzung für das Fremdverstehen. Die Lernenden sollen ihre eigene Situation zu den Lebensbedingungen der sowjetischen Mädchen in Beziehung setzen, der sich auftuende Kontrast soll die Schüler aufrütteln.

M 48-M 50: Welche Ziele verband die NS-Führungsriege mit dem Einsatz von Polinnen und "Ostarbeiterinnen" in deutschen Haushalten? Worin liegt die Sorge um die Gesundheit der deutschen Frauen begründet?

M 51-M52: Wie kam die Entscheidung von Frau K. zustande, sich für eine Beschäftigung im Haushalt zu melden? Warum bezeichnet sie diese Entscheidung als Glück? Wenn man Sie vor die Wahl gestellte hätte, wo wären Sie am liebsten eingesetzt worden? Begründen Sie. Wie gestaltete sich die Beziehung von Frau K. zu der deutschen Familie, für die sie arbeitete? Welche Erfahrungen machte Frau K. mit anderen deutschen Mitmenschen? Wie verbrachte sie ihre Freizeit?

Erst die Arbeit mit Zeitzeugenberichten und mit Interviews mit ehemalige Zwangsarbeiterin-nen ermöglicht den Schülern ein abgerundetes Bild. Denn die Akten, in erster Linie Erlasse, Verordnungen und Ausführungsbestimmungen, skizzieren hauptsächlich die theoretischen Grundlagen des Arbeitseinsatzes beziehungsweise die Wahrnehmung deutscher Verwaltungs-stellen und lassen in der Regel nur mit Abstrichen Rückschlüsse auf die tatsächlichen Arbeits- und Lebensumstände sowie auf die konkreten Erfahrungen der betroffenen Männer und Frauen zu. Erst die aus den Schilderungen der Betroffenen gewonnen Informationen aber lassen die Praxis der Ausländerbeschäftigung jenseits der kaum überschaubaren Flut von behördli-chen Anordnungen in schärferen Konturen hervortreten und vermitteln einen Eindruck von der Vielfältigkeit, ja Ambiguität der Erlebnisse ehemaliger Zwangsarbeiter: Die Erzählungen belegen das harte Los der Fremden im nationalsozialistischen Deutschland und die Gewalt, die sie allenthalben bedrohte, andererseits offenbaren die Erzählungen der Überlebenden aber ebenfalls, welche Handlungsmöglichkeiten, welche Nischen es für sie gab, die von der politi-schen Führung nicht vorgesehen waren und die den Alltag vielleicht erträglicher machen konnten.
Natürlich sind solche Erinnerungen subjektiv gefärbt; zudem bleibt die Perspektive der Erzäh-lenden auf die Vergangenheit nicht unbeeinflusst von den Grenzen der Gedächtnisleistung und von späteren Begebenheiten oder von im Nachhinein angeeignetem Wissen über das Hit-lerregime. Diese Problematik sollte daher im Unterricht thematisiert werden. Vor- und Nachteile der Methode, durch die Befragung von Zeitzeugen Informationen über die Vergan-genheit zu erlangen, sollen diskutiert werden.
Erinnerungsberichte ehemaliger Zwangsarbeiter aus Polen und der UdSSR finden sich in folgenden Werken:

Gestohlene Jugendjahre. Berichte ehemaliger sowjetischer Zwangsarbeiter über ihre Zeit in Wesermünde (Bremerhaven) 1941-1945. Hrsg. von Hans-Jürgen Kahle. Cuxhaven (1995)

Kraatz, Susanne: Verschleppt und Vergessen. Schicksale jugendlicher "OstarbeiterInnen" von der Krim im Zweiten Weltkrieg und danach. Heidelberg 1995

Mendel, Annekatrein: Zwangsarbeit im Kinderzimmer. "Ostarbeiterinnen" in deutschen Familien von 1939 bis 1945. Gespräche mit Polinnen und Deutschen. (Frankfurt am Main 1994)

"Es ist schwer, Worte zu finden". Lebenswege ehemaliger Zwangsarbeiterinnen. Hrsg. von Gegen Vergessen - für Demokratie e.V. (Bonn 1999)

Zwangsarbeit in Berlin 1940-1945. Erinnerungsberichte aus Polen, der Ukraine und Weißruß-land. Hrsg. von der Berliner Geschichtswerkstatt. (Berlin 2000).

Am nachhaltigsten wäre der Eindruck für die Schüler und Schülerinnen sicherlich, wenn eine Zeitzeugin sich bereit fände, den Jugendlichen während einer Schulstunde von ihren Erlebnissen zu berichten. Diese Stellungnahme aus einer persönlichen Perspektive erleichtert es den Lernenden, die Situation der Fremdarbeiterinnen im nationalsozialistischen Deutschland nachzuempfinden und zu verstehen. Der direkte Kontakt zu einer ehemaligen Zwangsarbeite-rin erzeugt bei den Schülern ein hohes Maß an Betroffenheit; ein affektives Lernziel steht hier im Mittelpunkt. Diese Schulstunde sollte entsprechend vorbereitet werden, z.B., indem die Schüler eine Art Interviewleitfaden entwickeln. Durch ihre anschließende "Befragung" der Zeitzeugin werden die Schüler selbst aktiv forschend tätig.

[zurück] [weiter] [Einleitung] [Thematischer Überblick] [Literaturverzeichnis]

Hinweis: Diese Webseite wird vom IGL auch Jahre nach Abschluss des Projekts weiterhin zur Verfügung gestellt. Die unten angezeigten Inhalte sind aber veraltet und spiegeln möglicherweise nicht den aktuellen Forschungsstand wider. (Klicken Sie auf diese Meldung, um sie auszublenden.)