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Kerstin Kersandt:  Lehrerhandreichung zum Thema "Zwangsarbeiterinnen im Raum Mainz-Wiesbaden in der Zeit des Zweiten Weltkrieges"

Thematischer Überblick [Fortsetzung & Ende]

Neben allen Vorzügen gab es aus der Perspektive von Partei und Wirtschaft beim Einsatz von polnischen und sowjetischen Frauen allerdings einen gravierenden Störfaktor: die Möglichkeit einer Schwangerschaft der als "rassisch minderwertig" eingestuften Slawinnen. Trotz zahlreicher Versuche, das Sexualleben der ausländischen Arbeitskräfte zu reglementieren, konnten intime Beziehungen und ihre etwaigen Folgen nicht verhindert werden. Aus einem nach höchster Arbeitseffektivität trachtenden Blickwinkel brachte das Austragen eines Kindes eine ärgerliche Unproduktivität der weiblichen Arbeitskraft mit sich. Erwartete eine Frau Nachwuchs, so sahen Regierungsvertreter und Arbeitgeber mit Unbehagen Leistungsminderung, Arbeitsausfall, organisatorischen Aufwand und zusätzliche Kosten auf sich zukommen. Vor dem Hintergrund rassenpolitischer Erwägungen stellte dieses Ereignis zumeist einen "unerwünschten Bevölkerungszuwachs" dar.

Unter den Vorzeichen der Zwangsarbeit sowie der ablehnenden Haltung von Staat und Partei bedeutete für die Sowjetbürgerinnen eine Schwangerschaft eine zusätzliche Härte (M 53-M 55): deutsche Mutterschutzbestimmungen galten für sie nicht; weder wurden ihnen Arbeitserleichterungen noch zusätzliche Lebensmittel gewährt. Die Entbindung selbst barg angesichts der medizinischen Unterversorgung der "Ostarbeiterinnen" durchaus eine ernste Gefahr für das Leben der werdenden Mutter in sich. Es entsprach der menschenver-achtenden Logik des Regimes, dass sich die Bestrebungen auf deutscher Seite zugleich darauf richteten, Schwangere, bei denen nicht mit "rassisch wertvollem" Nachwuchs gerechnet wurde, zum Schwangerschaftsabbruch zu bewegen - und dies gegebenenfalls auch unter Zuhilfenahme von Druckmitteln (M56, M 57, M 61-M 63).

Damit der vermeintliche "Wert" eines Kindes noch im Mutterleib ermittelt werden konnte, mussten sich die werdenden Eltern einer als ärztliche Untersuchung getarnten "Rassenprüfung" unterziehen. Sie wurden vermessen, gewogen und hinsichtlich verschiedener Gesichts- und Körpermerkmale, wie Wuchsform, Haltung, Kopfform, Nasenbreite, Backenknochen und Körperbehaarung genau klassifiziert. Dieses pseudowissenschaftliche Verfahren wickelte ein besonders geschulter "Eignungsprüfer" des Rassenamtes ab, der die erhobenen Daten auf der Rückseite vorgedruckter sogenannter "R-Karten" ("Rassen-Karten") eintrug (M 58). Offenbar einmal im Monat machte er bei den Gesundheitsämtern im Einzugsbereich der Wiesbadener Dienststelle des Rasse- und Siedlungswesens die Runde, um sich der Auslese von Ausländern zu widmen. Bedenken gegen eine Abtreibung äußerte der "Rassenspezialist" eher selten. Mit der hinter den Namen der überprüften Osteuropäerinnen notierten knappen Formel "kein Interesse" gab er statt dessen meistens grünes Licht für einen Schwangerschaftsabbruch (M 59, M 60). Allerdings verhinderten Rivalitäten unter den verschiedenen zuständigen Stellen sowie lange bürokratische Wege teilweise eine reibungslose Durchführung der Abtreibungspläne. Manchmal konnte ein beabsichtigter Abbruch nicht mehr vorgenommen werden, da nach Klärung der notwendigen Fragen die Schwangerschaft schon zu weit fortgeschritten war (M 64-M 65).

Kinder, die den Vorstellungen der Rassenexperten entsprachen, sollten dagegen unbedingt ausgetragen werden. Ziel war es, den Müttern die Säuglinge kurz nach der Geburt wegzu-nehmen, um sie dem "deutschen Volk" einzuverleiben. Für die allermeisten sowjetischen Frauen fiel unter diesen Umständen eine Schwangerschaft im Reich als eine weitere strapazi-öse und bedrohliche Erfahrung ins Gewicht. Dass polnische und sowjetische Mütter ihre Neugeboren im eigenen Lager belassen durften, wie etwa in dem städtischen Lager in Wies-baden oder im Lager der M.A.N. in Gustavsburg, bedeutete bereits einen Glücksfall (M 66-M 68).

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