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Christine Hartwig-Thürmer: Zwangsarbeit in Mainz-Gustavsburg 1942-1945

Nora Idsikowskaja, eine Polin, übermittelte als bisher einzige Zeitzeugin persönliche Eindrücke vom M.A.N.-Lager in Gustavsburg. [5] Nach ihrer Zwangsrekrutierung in ihrem Heimatland transportierte die Gestapo sie mit vielen anderen Menschen in Viehwaggons ohne regelmäßige Verpflegung in Richtung Frankfurt.

"Einmal kamen wir zu einem Lager mit sowjetischen Kriegsgefangenen. Das war furchtbar, ich habe das selbst gesehen. Die Menschen waren nur noch Haut und Knochen. Daneben war eine Baracke mit französischen Gefangenen, die ein viel besseres Leben führten. Sie konnten Ball spielen und Handarbeiten machen. Das Lager war in Kelsterbach, in der Nähe von Frankfurt am Main." [6]

Die jungen und arbeitsfähigen Polen wurden herausgesucht und zum Arbeitseinsatz geschickt. Nora Idsikowskaja kam in den Rüstungsbetrieb M.A.N.. Dort teilte man sie ein, in einer Halle den Boden sauber zu machen. Sie weigerte sich aber nach ein paar Tagen: "Ich werde nicht mit Faschisten gegen meine Heimat zusammenarbeiten." Als ihr das Reinigen der Toiletten aufgetragen wurde, waren einige andere Zwangsarbeiterinnen neidisch wegen der "zu leichten Arbeit", und eine unter ihnen verriet, dass Nora eine jüdische Mutter hatte. Frau Idsikowskaja berichtet:

"Herr Lehrbach (der Lagerleiter, C.H.-Th.) nahm meine Unterlagen mit und meinte, ich solle nicht arbeiten gehen und in der Baracke bleiben. Der Dolmetscher war ein ganz lieber Mann. [7] Auf dem Weg zum Block nahm er mich zur Seite und sagte: 'Sie haben sehr schlechte Kameraden.' Das waren die schlimmsten Tage; ich hatte große Angst, ins Ghetto gehen zu müssen. Ich wußte, was dort geschah. Ich konnte nicht begreifen, warum ich sterben sollte."

Aus Angst unternahm sie dann einen Selbstmordversuch mit Tabletten; doch einer der Wachmänner, Herr Bauer, fand das Mädchen unten am Rhein und brachte sie zum Sanitäter (Frau I. hielt ihn für den Arzt), Herrn Pfeiffer.

"Nach zwei Stunden, glaube ich, bin ich aufgewacht und sah Herrn Pfeiffer, der sagte: 'Ach Mädchen! Ach du Dummkopf, was hast du gemacht? Du bist doch so jung, du sollst doch weiterleben. Diese schlimme Zeit wird vorübergehen.' Ganz leise flüsterte er das, nur für mich. Es war mein Glück gewesen, daß Herr Bauer auf Streife gewesen war und mich gefunden hatte."

[5] In einem Interview mit Ursula Krause-Schmitt am 22.6.1994 berichtete Nora Idsikowskaja über ihren Zwangsaufenthalt in Deutschland, in:“informationen“ - Zeitschrift des Studienkreises Deutscher Widerstand , Nr. 4l, April 1995, S. 10-18.
[6] Harald Freiling u.a., Ausländische Arbeiter und Kriegsgefangene in Kelsterbach 1939-1945, Kelsterbach (Selbstverlag) 1987. Frau I. berichtet aus eigener Anschauung, was die historische Forschung für die Lage der sowjetischen Kriegsgefangenen insgesamt festgestellt hat. Siehe dazu Ulrich Herbert: Fremdarbeiter. Politik und Praxis des "Ausländer-Einsatzes" in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches, Bonn/Berlin 1985. Siehe auch: Bernhard Riedt: Zur Geschichte des Ausländereinsatzes im NS-Staat, in: Hartwig-Thürmer 1989, S. 225-239.
[7] Gemeint ist Theodor Rée, Dolmetscher bei der M.A.N.. Er beherrschte sieben Sprachen und setzte sich nach Aussagen aller Zeitzeugen für die Ausländer ein.

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