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Jan Storre: Zwangsarbeit in Speyer 1939 bis 1945

Einen großen Raum nehmen in den Berichten der Kriminal- und Schutzpolizei die verwandten Bereiche Diebstahl und Schwarzmarkt ein, die etwas ausführlicher dargelegt werden sollen. Zwar handelt es sich auch hierbei nicht um politisch motivierten Widerstand, sondern vielmehr um individuelle, in Einzelfällen vielleicht auch um organisierte illegale Aktionen, die in der Regel der Verbesserung der Lebenssituation, vor allem der Versorgungslage dienten. Gleichzeitig waren es Äußerungen der Widersetzlichkeit, die den Absolutheitsanspruch des nationalsozialistischen Systems zumindest in Frage stellten, wenn sie ihn auch zu keinem Zeitpunkt ernsthaft bedrohten. Sowohl Diebstahl als auch Schwarzmarkt schufen unter den Fremdarbeitern eine Art Substruktur, die sich, soweit sie unentdeckt blieb, der Kontrolle durch den NS-Apparat entzog. [21]

Die meisten Fälle von Diebstahl, die in den Berichten der Schutz- und Kriminalpolizei festgehalten sind, beziehen sich auf die Entwendung von Lebensmitteln [22]. Es ist nicht verwunderlich, dass vor allem Ostarbeiter, deren Versorgungssituation am schlechtesten war, dieses Delikts überführt wurden. ‚Obstfrevel', Kartoffeldiebstahl oder die Entwendung von Schweinefleisch oder eines Schinkens aus der Räucherkammer eines Speyrer Bauern durch Ostarbeiter belegen nicht, wie von den Berichten unterstellt, eine kriminelle Veranlagung dieser Menschen, sondern vielmehr die Notlage, in der sich die Arbeiter aufgrund der unzureichenden Versorgung in den Lagern bzw. Betrieben befanden. [23]

Waren die gestohlenen Lebensmittel in der Regel zum persönlichen Verzehr bestimmt, deutet der vor allem für die Firma Brinkmann nachgewiesene Diebstahl von ‚Genussmitteln' - in diesem Fall Tabak - auf einen blühenden Schwarzmarkt auch in Speyer hin. Seit Juli 1943 finden sich in den Berichten der Kriminalpolizei Hinweise auf Diebstähle durch die Fremdarbeiter der Speyrer Tabakfabrik. Da sich die Beschwerden der Firma häuften, griff die Kriminalpolizei seit Anfang Juli hart gegen die vermutete Tabakhehlerei durch. In diesem Zusammenhang wurden am 8. des Monats drei französische Zivilarbeiter festgenommen und zu je einem Monat Gefängnis verurteilt. Nur einen Tag später wurden erneut in der Firma beschäftigte Zwangsarbeiterinnen der ‚Genussmittelentwendung' überführt. Eine Ostarbeiterin, die bereits zum wiederholten Male verwarnt worden war, wurde in Polizeihaft genommen, die Gestapo wurde informiert. [24]

Das Problem war damit noch nicht gelöst. Im darauffolgenden Monat beklagte die Kriminalpolizei, dass der Tabakdiebstahl bei Brinkmann Formen angenommen habe, die nicht mehr geduldet werden könnten. Die Polizeibeamten waren sich des Verwendungszwecks durchaus bewusst und gaben die Existenz eines von ihnen nicht kontrollierbaren Schwarzmarktes zu: "Die Ostarbeiterinnen entwenden den Tabak, um ein Tauschmittel in die Hand zu bekommen, für das sie alles erhalten können. Hehler wurden bisher nicht ermittelt" [25]. Gleichzeitig griff sie weiter in aller Schärfe gegen nachgewiesene Fälle der Tabakentwendung durch, so dass im selben Monat zwei Ostarbeiterinnen des Unternehmens festgenommen und am 30. August 1943 in ein Konzentrationslager "verschubt" wurden. [26]

Einen weiteren Hinweis auf einen funktionierenden Schwarzmarkt in Speyer [27] finden wir im Bericht der Kriminalpolizei für den Januar 1944. Am 13. des Monats wurden zwei französische Zivilarbeiter festgenommen, die wiederholt von einem "unbekannten Täter" in der Schuhfabrik Linn neue Schuhe gekauft und anschließend weiterveräußert hatten. Die beiden Franzosen wurden wegen Hehlerei zu beträchtlichen Gefängnisstrafen verurteilt. [28]

[21] Vgl. Herbert: Fremdarbeiter, S. 347. Mit ‚Substrukturen' sind Vorgänge, Handlungen oder Verhaltensweisen der Zwangsarbeiter untereinander gemeint, die sich dem Einfluss und der Überwachung durch die Nationalsozialisten entzogen.
[22] Vgl. Monatsberichte der Schutzpolizei, August 1943-Dezember 1944, SA Sp. 10-1, 5; Monatsberichte der Kriminalpolizei, August 1942-Dezember 1944, SA Sp. 10-1, 8.
[23] Dennoch beklagte die Kriminalpolizei im Mai 1943, dass in krimineller Hinsicht vor allem französische Arbeitskräfte durch Verübung von Kameradendiebstahl oder unerlaubte Entfernung auffielen. Betrachtet man die zahlreichen Einträge zu von Ostarbeitern verübten Diebstählen, so fällt es schwer, diese Behauptung nachzuvollziehen (Vgl. ebd. Mai 1943.). Gleichzeitig spiegelt sich hier jedoch die allgemein kritische Bewertung der französischen Arbeitskräfte, die sich durch die Berichte der Kriminalpolizei zieht, wider.
[24] Vgl. Monatsberichte der Kriminalpolizei, Juli 1943, SA Sp. 10-1, 8.
[25] Ebd. August 1943.
[26] Ebd. Es handelt sich hierbei um die einzige explizite Erwähnung der Überführung von Speyrer Zwangsarbeitern in ein Konzentrationslager, was keinesfalls bedeutet, dass es sich um die einzigen Fälle handelt, wie spätestens in Kapitel 3.4 deutlich werden wird. Weitere Beispiele von Tabakdiebstählen sind für den Januar 1944 (zwei Ostarbeiterinnen und zwei Polinnen) sowie für den April 1944 überliefert. Sowohl in einem Lager für französische Zivilarbeiter als auch in dem Ostarbeiterlager der Firma Brinkmann wurden kleinere Mengen gestohlenen Tabaks gefunden. In den Unterkünften der Franzosen fand sich sogar eine selbstgefertigte Tabakschneidemaschine, die auf eine Verarbeitung des Rohtabaks in größerem Stile hindeutet (Vgl. ebd. Januar und April 1944.). In den Berichten der Schutzpolizei findet sich lediglich im Lagebericht für den Dezember 1944 ein Fall der Genussmittelentwendung durch Ostarbeiterinnen (Vgl. Monatsberichte der Schutzpolizei, Dezember 1944, SA Sp. 10-1, 5.). Ob es sich hierbei ebenfalls um Tabakdiebstahl handelt, bleibt im Dunkeln.
[27] Ein weiteres Beispiel findet sich in den Berichten der Kriminalpolizei für den Oktober 1943. Bei einer Kontrolle des Ostarbeiterlagers auf dem Ludwigshof wurde festgestellt, dass die russischen Arbeiterinnen eine große Anzahl von Gegenständen, vor allem aber von Lebensmitteln, gesammelt hatten. "Es besteht der Verdacht, dass die auf den Höfen beschäftigten Ostarbeiter sich landwirtschaftliche Erzeugnisse hamstern, um damit Kleidungsstücke einzutauschen" (Monatsberichte der Kriminalpolizei, Oktober 1943, SA Sp. 10-1, 8.).
[28] Vgl. ebd. Januar 1944: Während Roger C. zu einem Jahr und sechs Monaten Gefängnishaft verurteilt wurde, erhielt der Mittäter Charles S. lediglich sechs Monate. Die Strafe wurde zumindest im Falle des Roger C. im Amtsgefängnis Speyer abgesessen, da dieser im März 1944 auf unerwartete Weise erneut Erwähnung in den Lageberichten der Kripo findet: In der Nacht zum 24. März 1944 versuchten drei Franzosen, darunter zumindest auch Roger C., wahrscheinlich aber auch Charles S., gewaltsam aus dem Gefängnis auszubrechen. Sie hatten bereits in der im ersten Stockwerk gelegenen Zelle die Mauer durchbrochen, als sie von einem Gefängnisbeamten überrascht wurden. Offenbar blieb es nicht bei diesem einen Versuch. Zwei Nächte später bemerkte der Gefängnisverwalter auffällige Geräusche im Hof des Amtsgerichts. Kurz darauf fand er ein Kellerfenstergitter aus dicken Eisenstäben abgebrochen im Hof liegend vor. Die Polizei vermutete als Täter Franzosen und interpretierte den Vorfall als Befreiungsaktion der oben erwähnten Gefangenen (Vgl. ebd. März 1944.). Inwiefern der Ausbruchversuch, vor allem aber die Befreiungsaktion auf eine größere französische Hehlerbande hinweisen, muss Spekulation bleiben. Im Juli 1944 wurden die Häftlinge durch die Strafkammer Frankenthal wegen Gefangenenmeuterei zu hohen Gefängnisstrafen verurteilt (Vgl. ebd. Juli 1944.).


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