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Jan Storre: Zwangsarbeit in Speyer 1939 bis 1945

Die Ausführungen über die Ernährungssituation - und Ähnliches gilt für den Bereich der Versorgung mit Kleidung - zeigen, wie stark die individuellen Lebensbedingungen von der Nationalität des Arbeiters, dem jeweiligen Einsatzträger oder aber dem Lagerpersonal abhängig waren. In diesem Zusammenhang muss auf die Initiative des Oberbürgermeisters Leiling zur Verbesserung der Kleidungssituation insbesondere der Ostarbeiter hingewiesen werden. Durch Kleidersammlungen oder mit Hilfe der Schuhumtauschstelle versuchte er, den dringendsten Bedarf zu decken. Neben rationale Überlegungen, die dem Erhalt der Arbeitskraft der Fremdarbeiter galten, trat hier auch humanitäres Engagement [17].

In Speyer hingen die Arbeitsbedingungen nicht allein von der Branche und der Betriebsgröße ab. Zwar gestaltete sich die Arbeit auch in den wenigen örtlichen Rüstungsunternehmen besonders hart, doch hob sich die Situation in kleineren Betrieben nicht unbedingt positiv davon ab. Zu den Verhältnissen in der Gemüsekonservenfabrik Wirth äußerte sich selbst die Kriminalpolizei im März 1943 sehr negativ [18]. Prinzipien hygienischen Arbeitens, aber auch des Schutzes der Arbeiterinnen wurden hier missachtet. Außer dem Mangel an notwendiger Arbeitskleidung für die ausländischen Arbeiterinnen weisen die Beamten darauf hin, dass Kochgelegenheit und Arbeitsplätze der Zwangsarbeiterinnen im selben Raum lägen. Natürliches Licht drang offenbar nur durch die Tür in das Gebäude. Der Kochdunst nahm den Frauen jegliche Sicht und verhinderte gleichzeitig eine Kontrolle hinsichtlich hygienischen Arbeitens durch das deutsche Personal. Für die Tabakfabrik Brinkmann sind mehrere Beispiele kollektiver Streiks überliefert, wobei die ausländischen Werktätigen gegen die Arbeitsbedingungen oder gegen das nicht ausreichende Essen protestierten [19]. Selbst in der Nahrungs- und Genussmittelindustrie gaben die Verhältnisse - sogar nach Ansicht der Polizei - berechtigten Anlass zu Beschwerden.

Als weiterer Aspekt der Alltagsgeschichte kann neben den alltäglichen Lebens- und Arbeitsbedingungen auch der Bereich der Freizeit der Zwangsarbeiter betrachtet werden. Gerade in Bezug auf die osteuropäischen Zwangsarbeiter muss der Freizeitbegriff relativiert werden. Viele waren darauf angewiesen, nach Feierabend durch Eigeninitiative auf nicht immer legalem Wege die Nahrungsmittelrationen aufzubessern. Dennoch existierte auch im Leben vieler Ostarbeiter und Polen in Speyer ‚Freizeit'. Zunächst waren die Ausgangsbestimmungen gerade in Bezug auf die Osteuropäer noch sehr restriktiv, wurden aber später immer weiter gelockert, so dass seit 1943 auch Polen und sowjetische Arbeiter zunehmend zum Stadtbild gehörten. Die Aussagen der Zeitzeugin Olga M. zeigten ähnlich wie verschiedene Belege aus der schriftlichen Überlieferung, dass durch Überwachungslücken im nationalsozialistischen Sicherheitsapparat erstaunliche Freiräume entstanden, die Züge von Normalität im Leben der Unterdrückten zuließen [20]. Olga M. berichtete u. a. von regelmäßigen Kinobesuchen, bei denen sowjetische Zivilarbeiter auf den teureren Logenplätzen saßen, um so von den deutschen Zuschauern nicht wahrgenommen zu werden. Mit der Reichsbahn unternahmen Zwangsarbeiter in der Freizeit immer wieder Ausflüge und entfernten sich unerlaubterweise vom Einsatzort. In einer Stadt wie Speyer, die aufgrund ihrer geringen Größe den Zwangsarbeitern praktisch keine Anonymität bot, gab es somit erstaunliche Freiräume im Leben einiger ausländischer Arbeiter, die zwar auch andernorts bestanden haben mögen, jedoch nur selten nachgewiesen werden können. Diese Nischen konnte es nur geben, weil ein Teil der einheimischen Bevölkerung nicht zur Denunziation bereit war. Für Ordnungs- und Sicherheitspolizei war es angesichts der zu geringen personellen Ausstattung aussichtslos, eine umfassende Kontrolle auszuüben. Sie war entscheidend auf die Mithilfe der Bevölkerung bzw. auf deren Denunziationsbereitschaft angewiesen.

Unter den Stichworten ‚Strategien der Verweigerung' und ‚Widerstand' wurden verschiedene Aspekte der Widersetzlichkeit im Alltag der Zwangsarbeiter in Speyer untersucht. Es hat in der kleinen vorderpfälzischen Stadt sämtliche Formen von Resistenz bis hin zu politisch motiviertem Widerstand gegeben. Im Vergleich zu anderen Lokalstudien konnte für Speyer aufgrund der Quellenlage ein äußerst detailliertes Bild des Themenbereiches entwickelt werden. Die meisten der rekonstruierbaren Fälle wiesen jedoch keinen explizit politischen Hintergrund auf, sondern waren in der Regel Proteste gegen die Lebens- und Arbeitsbedingungen im jeweiligen Unternehmen. Dennoch kann dem oppositionellen Verhalten der Fremdarbeiter insofern eine politische Intention zugestanden werden, da es den Zwangsarbeitern z.B. durch ‚Arbeitsbummelei', Flucht oder Streiks gelang, die Produktionsabläufe in der kriegswichtigen Industrie nachhaltig zu stören.

[17] Vgl. Monatsberichte des Oberbürgermeisters, SA Sp. 10-1, 4.
[18] Vgl. Monatsberichte der Kriminalpolizei, März 1943, SA Sp. 10-1, 8.
[19] Vgl. Monatsberichte der Kriminalpolizei, SA Sp. 10-1, 8.
[20] In der schriftlichen Überlieferung berichten vor allem die Monatsberichte der Kriminal- und Schutzpolizei immer wieder von Razzien, bei denen Ausländer aufgegriffen wurden, die sich unerlaubter Weise von ihrem Arbeitsplatz entfernt hatten (Vgl. SA Sp. 10-1, 8 sowie SA Sp. 10-1, 5.).


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