Handlungsoptionen im NS-Unrechtsstaat
M 8a
Der mit einem selbst gebauten mobilen Galgen qualvoll Exekutierte wurde
mit einem LKW zur Anatomie in Gießen gebracht. Den weiteren Verlauf
schilderte Prof. Dr. von H. in einem Gerichtsverfahren 1947:
"Es wurde dem Institut mitgeteilt, dass ein durch die Frankfurter
Gestapo hinzurichtender Pole der Anatomie Giessen überlassen werden
sollte. Daraufhin fuhren Max und Fritz Ament zusammen mit dem Fahrer,
Herrn Gärtner, in ein Dorf hei Wetzlar und holten dort den eingesargten
Polen ab und fuhren ihn in das Anatomische Institut nach Giessen.
Beim Ausladen stellten sie Röcheln aus dem Sarge fest und auch Bewegungen
des durch den Strang Hingerichteten, ein Schaben der Füße am
Sarge. [...]
Nach Aussagen des Polizeidirektors von Giessen kamen Herr Gärtner
und Herr Fritz Ament beide völlig blaß und verstört, kaum
eines Wortes mächtig auf das Polizeirevier und haben nicht viel mehr
berichten können, als daß jemand noch leben würde. [...]
Der bald eingetroffene Beamte der Gestapo Giessen verlangte dann von Max
Ament, daß er den Polen töten sollte, was von Max A. entrüstet
abgelehnt wurde. Daraufhin ging der Beamte an das Institutstelefon und
telefonierte allein mit seiner Dienststelle offenbar. Daraufhin kamen
sofort nochmals zwei Beamte der Giessener Gestapo in Zivil und stellten
an Herrn Ament nochmals das Ansinnen, den Polen zu töten, was Ament
wiederum ablehnte. [...]
Bald darauf kam auch aus Richtung Wetzlar der von der hiesigen Gestapo
offenbar benachrichtigte Lastwagen mit uniformierten Frankfurter Gestapo-Beamten
(teilweise Offiziere in schwarzer SS-Uniform), die den Polen in dem Dorfe
bei Wetzlar hingerichtet hatten. [...]
Erst jetzt betrat ich selbst das Institut und wurde gleich am Eingang
von dem völlig verstörten und kaum eines Wortes mächtigen
Max Ament empfangen. [...] Ich rief, da es mir klar war, daß aus
allen menschlichen selbstverständlichen Gründen der Pole in
die Klinik gebracht werden mußte, und zwar augenblicklich, [...]
die Chirurgische Universitätsklinik an. Der gerade diensttuende Arzt
teilte mit, daß der Direktor und dessen Stellvertreter abwesend
seien.
Ich ging in den Leichenkeller und brauchte alle Kraft, um meine Fassung
zu wahren, als auch ich mich davon überzeugen mußte, dass der
Pole, zwar noch tief bewußtlos, aber noch lebte.
Ich wußte, nachdem die Gestapo bereits zwei Mal das Tötungsansinnen
an Max Ament gestellt hatte, daß die Gestapo entschlossen war, verbrecherisch
zu handeln und war fest entschlossen, ihr entgegen zu handeln. Darum lehnte
ich das mir in Gegenwart von Max Ament gestellte Ansinnen (durch zwei
nicht uniformierte Gestapoleute) den Polen durch Gifteinspritzung zu töten,
menschlich empört und unter Hinweis auf die juristische Unmöglichkeit
einer solchen Tat ab. [...] Das alles hörten sich die Gestapoleute
bewegungslos und ohne Gegenäußerung an, im Gegenteil, [es]
zog einer seinen Revolver, wollte die Anwesenden entfernen, und äußerte,
durch den Sarg schießen zu wollen. Ich hinderte ihn daran, indem
ich scharf darauf hinwies, daß nur ich hier im Institut zu sagen
hätte. [...] Ich forderte von der Gestapo die sofortige Überführung
des Polen in eine Klinik. [...] Ich rief dann nochmals die Chirurgische
Universitätsklinik an [...] Noch während des Anrufes erschien
Herr Max Ament und teilte mit, daß die Gestapo unter Mitnahme des
Polen mit ihrem Lastwagen das Institut verlassen hätte."
M 8b
Der Henker schildert das weitere Geschehen:
"In Gießen angekommen, wurde die Annahme der 'Leiche' von
den Ärzten des Instituts deswegen verweigert, weil bei der Untersuchung
der Pole noch Lebenszeichen von sich gab. Ich weiß noch genau, daß
der Pole beim Öffnen des Sarges deutlich stöhnte. Darüber
verwundert und aufgeregt hat G. vermutlich den Dienststellenleiter P.
von dieser Wahrnehmung in Kenntnis gesetzt und um entsprechende Weisungen
gebeten. Nach einem Telefonat des G. fuhren wir mit dem Polen, der weiterhin
im Sarg liegenblieb, in ein Waldstück außerhalb Gießens
und verweilten dort an einer bestimmten Stelle, um das Eintreffen des
Stapostellenleiters abzuwarten. Nach etwa einer Stunde kam der P. mit
seinem Fahrer an und sah sich den Polen an. [...]
P. war sehr aufgeregt und ungehalten über das Versagen bei der Hinrichtung.
Kurz entschlossen erteilte er mir unmißverständlich den Befehl,
den Polen zu erschießen. Die wörtliche Wiedergabe des Befehls
ist mir nicht mehr möglich. P. gab mir noch die Anweisung, wohin
ich auf das Opfer zu schießen hätte. Ich hatte vorher im Umgang
mit Waffen noch keine Erfahrung.
Als ich den Polen mit zwei Schüssen in den Kopf (Genick) tötete,
war er noch bewußtlos. Da der Pole auf dem Rücken lag, ging
ich mit der Pistole ganz dicht an das Opfer heran, um so im Sarg einen
Genickschuß mit folgendem Gnadenschuß anbringen zu können.
Nach dem ersten Schuß zuckte der Körper des Opfers zusammen.
Ich habe erst auf Befehl des P. den zweiten Schuß als Gewißheit
abgefeuert. Mir war diese Handlung alles andere als erfreulich, jedoch
sah ich keine Möglichkeit, diesem konkreten Befehl des P. auszuweichen.
Anschließend wurde die Leiche nach Frankfurt am Main transportiert
und dort zu einem Bestattungsinstitut gebracht. So weit ich mich erinnere,
ist die Leiche verbrannt worden. [...] In den späteren Nachmittagsstunden
war in der Kantine des Dienstgebäudes in Frankfurt am Main ein Umtrunk
aller Teilnehmer der Hinrichtung. Erst hier habe ich erfahren, daß
der größte Teil bereits in einem Nachbarort von Wetzlar in
einem Gasthaus verweilt hatte. In der Kantine hatten wir freie Zeche und
wir bekamen auch zu rauchen. Auch ich sprach dem Alkohol tüchtig
zu und bekam Gewissensbisse. [...] Zu meiner Handlungsweise selbst möchte
ich noch bemerken, daß ich den Befehl des P. widerwillig, jedoch
ohne Widerspruch ausgeführt habe. Der Grund der ‚Sonderbehandlung’
des Polen war mir nicht bekannt."
Quelle M 8a und b: Porezag, Karsten: Zwangsarbeit in Wetzlar. Der
„Ausländer-Einsatz“ 1939-1945. Die Ausländerlager
1945-1949. Wetzlar 2002, S. 297f.
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