M 5a

Tichonow, Anatolij Fedorowitsch, geb. 1931:

Ich verließ Rußland zusammen mit Schwestern, Brüdern und Eltern. Wir hatten Angst und wußten nicht, wohin man uns bringen würde. Es gab ständig Bombenangriffe. Man brachte uns nach Frankfurt, in ein Lager hinter Stacheldraht. Von diesem Lager brachte man uns in die Stadt Worms. Ich arbeitete bei einem Bauern im Weinbau und auf dem Hof. Ich mußte riesige Weinfässer putzen. 8 Stunden und mehr. Sonntags hatten wir mal frei, mal nicht. Ich konnte mich mit Landsleuten treffen. Urlaub gab es keinen. Ich war im alten Haus des Bauern untergebracht, das Essen war gut. Wenn wir krank waren, haben wir uns mit eigenen Heilmitteln geholfen. Im Lager schliefen zwei Familien in einem Raum. Auch Kinder lebten in dem Lager. Sie kamen mit ihren Müttern. Ältere Kinder versorgten die Kleinkinder. Der Bauer behandelte uns gut. Einige seiner Angestellten gaben mir aber manchmal Ohrfeigen. Bei Bombenangriffen versteckten wir uns im Keller unseres Hauses. Es gab Fälle, daß wir in den Weinfeldern von amerikanischen Flugzeugen beschossen wurden. Einmal kroch ich vor lauter Angst in ein Kanalisationsrohr. Dort erstickte ich beinahe.

M 5b

Zemljanskaja, Elena Andreewna, geb. 1925:

Ich kam ungefähr im April1942 in Deutschland an und habe ganz schlimme Erinnerungen. Man fuhr uns in Güterwaggons und gab uns nichts zu essen. Man schlug uns. Ich arbeitete in der Lederfabrik Cornelius [Heyl AG] an einer Stoßmaschine in der Werkhalle ohne Gehalt und viele Stunden täglich bis zur Befreiung. Im Gebäude der Fabrik gab es ein großes Lager mit Holzbaracken. Dort waren alle Russen untergebracht. Man ließ uns nicht rausgehen. Das Essen war sehr schlecht. Man verlor alle Kräfte. Wer schwere Arbeiten verrichten mußte, fiel oft vor Erschöpfung um. Ich war sehr klein und wog nur 38,5 kg. Ich war nicht beim Arzt, obwohl ich krank war. In einem Raum schliefen 15-18 und mehr, die Betten standen in zwei Reihen. In unserer Fabrik behandelte uns die Leitung nicht schlecht. Man hatte Mitleid mit mir, ich war die kleinste. Man hatte oft Mitleid mit mir und mit den anderen. Man nannte uns die ganze Zeit ‚ihr Armen’. Die deutschen Kollegen verhielten sich nicht schlecht. Die Arbeit erfüllten wir gut, so wie es gefordert war. Man konnte ja auch nicht anders. Einmal wurde ich von der Gestapo verhaftet. Man brachte mich nach Darmstadt und schlug sehr stark, so daß mir ganz schwarz wurde. Mein Verbrechen war folgendes: Im Dorf Krasnoje waren viele deutsche Soldaten stationiert. Sie halfen uns, den drei Waisen-Mädchen. Einer von ihnen schickte mir einen Brief an die Fabrik-Adresse. Der Übersetzer schickte mich dann in ein Konzentrationslager. Im Luftschutzkeller durften sich nur die Deutschen verstecken. Wir versteckten uns irgendwo. Sie alle wurden von einer Bombe getroffen und wir blieben am Leben. Wir mußten sie später ausgraben.

M 5c

Tratschuk, Ljubow Nikititschna, geb. 1926

Ich kam im August 1943 nach Deutschland. Man hat uns unter Zwang, unter vorgehaltenen Maschinengewehren in die Güterwaggons zusammengepfercht. Wie das Vieh hat man uns zur Zwangsarbeit nach Deutschland gebracht. Ich arbeitete in der Fabrik Maria Münster [Cornelius Heyl AG]. Nachdem die Fabrik zerbombt wurde, brachte man mich zu einem Bauern ca. 6 Kilometer von Worms entfernt. Ich arbeitete täglich von 5 Uhr morgens bis 23 Uhr abends ohne Lohn. Sonntags hatte ich sehr selten für zwei Stunden frei. Sehr selten konnte ich mich am Sonntag mit Landsleuten treffen. Urlaub gab es keinen. Was für einen Urlaub kann ein Gefangener bekommen? Morgens gab es heißes Wasser mit einem Scheibchen Brot, mittags eine wäßrige Suppe aus Steckrüben ohne Brot und abends heißes Wasser mit einem dünnen Scheibchen Brot. Sie nannten es „Chrustik“ [Knäckebrot]. Wir waren Gefangene. Man hat uns einfach zwangsweise nach Deutschland verschleppt. In einem Raum schliefen 100 Leute in Dreireihenbetten übereinander. Wir waren alle selbst Kinder – 15-, 16-, 17-jährige. Man behandelte uns wie Vieh. Man nannte uns ‚Schweine’. Die Vorgesetzten redeten nicht mit uns, nur mit Gestik. Wenn wir etwas falsch machten, schlugen sie uns mit Knüppeln auf die Hände. Die Kollegen durften keinen Kontakt mit uns haben.

M 5d

Wowtschenko, Zinaida Ilinitschna, geb. 1925

Die Deutschen verschleppten 13 Mädchen aus meinem Dorf und wir kamen in Deutschland Ende November 1942 an. Ich arbeitete als Dreherin in der Fabrik „Enzinger-Union“. Ich erhielt ein paar Mark Lohn pro Woche. Von 7 Uhr morgens bis 7 Uhr abends arbeitete ich an einer Werkzeugmaschine. Urlaub hatte ich keinen. Das Essen war schlecht. Wir dachten ständig an die Heimat zurück. Es war Krieg. Die Deutschen erzählten uns, sie hätten alles gegen Lebensmittelkarten. Ich war krank und war beim Arzt. Er hatte mir Hilfe geleistet. Ich hatte keinen Krankenhausaufenthalt, durfte aber für gewisse Zeit nicht arbeiten. Der Lagerleiter hat mich ins Krankenhaus gebracht. Ich kann mich an keine schlechte Behandlung erinnern. Die Lagerleitung behandelte uns gut. Wenn wir was falsch machten, schimpften sie nur wenig. Wir waren junge Mädchen und weinten dann. Sie nannten uns „arme Kinder“. In der Fabrik hatte ich einen Meister. Er war 70 Jahre alt und war mir wie der eigene Vater. Er lud mich immer zu Feiertagen und zu Ostern nach Hause. Die deutschen Kollegen waren freundlich mit Russen und anderen Arbeitern. In Pfeddersheim [Ort bei Worms] gab es gute Leute, die mich zu sich nach Hause einluden und erzählten, daß man die Deutschen bald aus Rußland vertreiben werde und ich nach Hause zurückkehren könnte. Sie stellten sogar russische Radiosender ein. Weder von der Gestapo noch von der Polizei wurde ich verhört. Einige Mädchen verhaftete aber die Polizei. Sie blieben dort je ca. drei Tage. Man gab ihnen weder zu essen noch zu trinken.

Quelle M 5a-d: Brecher, Volker: Kriegswirtschaft in Worms. Kapitel V.

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