M 1aEin deutscher Polier wird gegen seinen Willen zur Arbeit auf einer Baustelle im Generalgouvernement (besetztes Polen) dienstverpflichtet. Er leitet dort fachfremde polnische Arbeiter an, die arbeitslos waren, weil die deutschen Besatzer ihre Fabrik geschlossen haben Um der Deportation nach Deutschland zu entgehen und ihre Familien ernähren zu können, haben sie sich aus eigenem Entschluß zur Arbeit gemeldet. Fühlt sich der Deutsche von seinem Arbeitgeber ungerecht behandelt, kann er sich über die Deutsche Arbeitsfront (DAF; eine Zwangsgemeinschaft der Unternehmer und abhängigen Beschäftigten) beschweren; notfalls kann er auf Hilfe der deutschen Besatzungsbürokratie vertrauen. Die Polen haben diese Möglichkeit nicht, weil eine eigenständige polnische Verwaltung oder auch nur Interessenvertretung nicht mehr besteht. |
M 1bEin niederländischer Zivilarbeiter kommt freiwillig nach Deutschland, stellt jedoch schnell fest, daß die Realität nicht mit den Versprechen der deutschen Werber übereinstimmt, und will vor Ablauf der Vertragsfrist nach Hause zurück. Dies würde ihm jedoch als „Arbeitsvertragsbruch“ ausgelegt. Er wird zwar nicht bewacht, riskiert aber bei Flucht und Festnahme die Einweisung in eines der berüchtigten Arbeitserziehungslager und muß überdies in jedem Fall damit rechnen, daß die deutschen Besatzungsbehörden in den Niederlanden mit Repressalien gegen Familienangehörige vorgehen. Nach Ablauf seines einjährigen Vertrages wird er vom Arbeitsamt gegen seinen erklärten Willen für ein weiteres Vierteljahr dienstverpflichtet, was sich bis Kriegsende wiederholt. Immerhin erhält er einmal im Jahr zwei Wochen Heimaturlaub. Dabei steht er jedesmal vor der Entscheidung, ob er in der Heimat untertauchen oder an seine ungeliebte deutsche Arbeitsstelle zurückkehren soll. Am Arbeitsplatz erfährt er als Facharbeiter Anerkennung, etwaige Beschwerden finden beim deutschen Meister normalerweise Gehör. |
M 1cEin westfranzösischer Bauarbeiter wird von seinem französischen Arbeitgeber, der Subunternehmer der Organisation Todt ist (eine riesige Bauorganisation des NS-Staates, die vorwiegend Bauten für die militärische Infrastruktur errichtete), über das lokale Arbeitsamt zur Arbeit auf einer Baustelle an der Atlantikküste dienstverpflichtet. Er arbeitet unfreiwillig für den deutschen Kriegsgegner, hat aber im Gegensatz zu seinem bei einer deutschen Firma auf derselben Baustelle eingesetzten, wesentlich schlechter entlohnten und häufig geschlagenen ukrainischen Kollegen weitaus mehr Rechte und Möglichkeiten: Sein Arbeitgeber ist französisch, sein Arbeitsvertrag unterliegt französischer Jurisdiktion, und er befindet sich in einem lokalen sozialen Netz, wenn auch unter deutscher Oberaufsicht. |
M 1dEin französischer Kriegsgefangener erhält von der deutschen Lagerverwaltung das Angebot, in den Zivilstatus überzuwechseln und bis Kriegsende als Zivilarbeiter in Deutschland zu bleiben. Er würde dann für dieselbe Arbeit sehr viel mehr verdienen und könnte sich innerhalb des Landkreises seiner Arbeitsstelle völlig frei bewegen, verlöre jedoch den Schutz der Genfer Konvention und würde von manchen Kameraden als Kollaborateur verachtet. Daher entscheidet er sich dagegen. Doch die Mehrheit seiner Kameraden wünscht die Umwandlung. Der Lagerkommandant verfügt daher kurzerhand die Überführung des gesamten Kommandos in den Zivilstatus. |
M 1eEin 15jähriger Jugendlicher aus Weißrußland wird mit seinem älteren Bruder nach Deutschland deportiert und dort von ihm getrennt. Als „Ostarbeiter“ muß er unter menschenunwürdigen Bedingungen in einer deutschen Rüstungsfabrik arbeiten. Er flieht daher aus dem Lager und versucht sich zu seinem Bruder durchzuschlagen, der am anderen Ende Deutschlands unter besseren Bedingungen eingesetzt ist. Um nicht zu verhungern, begeht er unterwegs kleinere Diebstähle. Eine deutsche Polizeistreife greift ihn auf, und die Gestapo weist ihn nach kurzem Verhör in ein Konzentrationslager ein. Er kommt in ein Baukommando, in dem kaum erträgliche Arbeits- und Lebensbedingungen herrschen. Wie viele andere Häftlinge stirbt er nach kurzer Zeit an Hunger und Kälte. |
M 1fEiner jungen ungarischen Jüdin wird beim Verlassen des Eisenbahnwaggons an der berüchtigten Rampe in Auschwitz von einem erfahrenen KZ-Häftling zugeraunt, daß sie sich unbedingt zu den Arbeitsfähigen stellen solle, da ihr ein Arbeitskommando tendenziell größere Überlebenschancen böte. Also versucht sie bei der Selektion verzweifelt, auf die »richtige« Seite zu kommen. Für sie bedeutet Zwangsarbeit, der unmittelbaren Ermordung zu entrinnen. Sie kommt in eine Flugzeugfabrik und findet halbwegs erträgliche Bedingungen vor. Doch sie wird immer schwächer und kann bei dem Evakuierungsmarsch kurz vor Kriegsende kaum noch mithalten. Halbtot wird sie von alliierten Truppen befreit und stirbt, weil sie die Nahrung nicht verträgt.
Quelle M 1a-f: Spoerer, Mark: Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz. Ausländische Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und Häftlinge im Deutschen Reich und im besetzten Europa 1939-1945. Stuttgart, München 2001, S. 11f. |